top of page

  PSYCHOSOMATISCHE REHABILITATION 
  BRUNNEN-KLINIK BAD MEINBERG            - 2017

+ Ankunft und erste Eindrücke


Meine liebe Sonja hatte mich vormittags an einem im wahrsten Sinne des Wortes trüben Herbsttag Anfang November hier in die Kurklinik nach Bad Meinberg gebracht, und obwohl die ganze Einrichtung eher den Charme eines Schullandheims in der 80er Jahren hatte, machte ich es mir mit meinen wenigen Habseligkeiten, die man bei einem solchen Aufenthalt nicht entbehren mag, doch etwas gemütlich, verräumte und verstaute die im sogenannten Kulturtäschchen, was für eine Bezeichnung für ein Reisebehältnis mit so profanen Gegenständen wie Hornhautraspel und Hühneraugenpflaster, befindlichen Utensilien im Badezimmer und die Kleidung im bereitstehenden Kleiderschrank, wo denn bitte auch sonst.

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

Mancher hat andere Gepflogenheiten und lässt alles irgendwo stehen oder liegen. Das ist nicht mein Leben, obwohl ich mich an Zeiten erinnern kann, in denen ich kaum in der Lage war, strukturierter zu wohnen und mir Wischmopp oder Staubsauger wie grimmige Feinde vorkamen, die alles andere als Werkzeuge in meiner Hand werden wollten. Ja, sie waren es, die es mir mit ihrer unsäglich laxen Haltung unmöglich gemacht hatten, mit Ihnen das zu tun was ihnen gebührte. Diese Verfassung lag nun schon etwas zurück, aber ich erinnerte mich sehr wohl an diese Zeiten, in denen jede Bewegung, jeder Schritt, jede Treppenstufe beschwerlich geworden waren. In tiefster Depression sind es nicht etwa kleinere Bäume, die sich ausreißen ließen als sonst, nein nicht einmal für Un- oder Wildkräuter reicht dann meine Kraft.

Warum war ich hier in Bad Meinberg? Nach immerhin zwei Jahren der Arbeitsfähigkeit im Beruf eines Taxifahrers, war ich psychisch und körperlich nun doch wieder ins Wanken geraten.

Die eigentliche psychische Erkrankung mit ihren über die Jahre vielen wechselhaften Gesichtern, und dazu die umfangreiche Medikation, Neben- und Wechselwirkungen, unter deren Einfluss sich manchmal Teufel und Beelzebub zum Verwechseln ähnlichsehen, hatten mich veranlasst einmal mehr um Hilfe zu bitten.

Seit bereits zwei Monaten der Arbeitsunfähigkeit mit häufigen Konzentrationsaussetzern im Straßenverkehr und merkwürdigen kleinen Angstschüben hielt ich es für besser, alles einmal mehr auf den Prüfstand zu stellen. Was führte nun zu diesen Unsicherheiten? War es die Erkrankung selbst, oder waren es die Präparate meines Medizinmannes, so nenne ich liebevoll den Psychiater meines Vertrauens, die nicht mehr zueinander passen wollten?

Schon die Anreise hatte mich ziemlich mitgenommen, weshalb Körper und Geist einmal angekommen sofort nach Ruhe riefen. Die ärztliche Eingangsuntersuchung war unproblematisch, und abends wurden die Frischlinge, wer sich führen ließ, von einem "Paten" durchs Haus geführt. Ich bevorzugte auf eigene Faust Erkundungstouren unternehmen zu wollen, weil ich einfach zu erschöpft war und außerdem lieber Schreiben wollte. Ich freute mich auf den nötigen Nachtschlaf bei weitgeöffneter Balkontür und genoss die Ruhe gebettet unter Bettdecke und Wolldecke, ich liebe neuerdings des Nachts die frische Luft um die Nase!

Inspiriert zu dieser für mich neuen Schlafqualität war ich durch die kürzlich wieder aufgenommene Lektüre des Zauberbergs von Thomas Mann, in der sich der Protagonist, in persona eines unheldischen Helden, der junge Hans Castorp, von seinem Vetter, Joachim Ziemßen, die Einhaltung der sogenannten Liegekur abschaut. Nun ist Bad Meinberg nicht Davos, und ich bin nicht Hans Castorp, und dennoch wollte ich Hans und Joachim ein wenig näher rücken, und es ihnen gleichtun, mich also schwungvoll in Decken gehüllt der klaren, und kühlen Herbstluft eines in einer beinahe noch norddeutschen Hügellandschaft am Rande des Teutoburger Waldes gelegenen Sanatoriums aussetzen.

Vorgenommen hatte ich mir, dass ich jeden Tag etwas schreiben wollte, und einige Freunde wollte ich mitlesen lassen, so als würde ich Ihnen erzählen, wie es mir hier erging. Leider war dieses Ziel etwas zu hochgesteckt, denn ich war längst nicht an jedem Tag dazu in der Lage. Die Therapien erwiesen sich als höchst anstrengend, weshalb parallel zu den Erlebnissen Hans Castorps auf dem Zauberberg keine rechte Urlaubsstimmung aufkommen wollte.
​

+ Erste Begegnungen

Ein Haus mit 160 Betten und geschätzt mehr als 50 Ärzten, Pflegern und Therapeuten, außer Reinigungs- bzw. Küchenpersonal, erfordert ein Höchstmaß an Organisation, und tatsächlich scheint dieser gesamte Pseudoorganismus zu funktionieren wie eine Ameisenkolonie, wobei natürlich Welten liegen zwischen einem profanen Sanatorium und Millionen von Ameisen ausgestattet mit göttlicher Weisheit. Dennoch ist es gleich einem eigenen kleinen Kosmos, in dem sowohl Ameise als auch Mensch jeweils den zugewiesenen Platz einnehmen und um sich herum nur noch und wenn überhaupt zur Kenntnis nehmen, was alles geschieht, damit funktionieren kann, was funktionieren muss. Vielleicht vergleichbar noch mit dem Fahren eines Autos: Zum Führen desselben muss man nicht bis ins Kleinste begreifen, warum und wie es funktioniert, und so auch hier, um den Nutzen aus einem Klinikaufenthalt zu ziehen genügt es, sich in seinen Platz als Patient einzufügen und an der eigenen Genesung nach besten Kräften mitzuarbeiten.

War ich nach so wenigen Tagen tatsächlich schon angekommen, im Sinne eines „Sich-schon-eingewöhnt-Habens“? Die verschiedenen Aufenthalte in meiner Lieblingsklinik machten mich zum Routinier in diesen Dingen. Ja, ich war bereit und wollte lernen, verstehen und auftanken. Und auch die Klinik war bereit: Ein enorm hohes Kompetenzniveau der Ärzte und Therapeuten - richtig gut - sprachen auch vor großen Gruppen mit Charme und Witz.

Man darf nicht verkennen, die meisten Patienten sind in solchen Einrichtungen, um sich helfen zu lassen, auch wenn es auf den Fluren und in den Treppenhäusern Gelächter gibt und viele aussehen, als fehle ihnen gar nichts. Etwa 95 % der Leutchen sind zwischen 50 und 60 Jahre alt und haben ihre Milch längst gegeben, sind vielleicht schon das zweite oder dritte Mal in solch einer Einrichtung, und jeder hat seine eigene Geschichte und so manche wäre sicher erzählenswert.

In der Anonymität, wo man niemanden kennt, erzählt es sich viel leichter, was einen bewegt und wo es drückt. Merkwürdig ist das schon, weil man bei Bekannten ja wissen müsste, ob man ihnen vertraut oder nicht und bei Unbekannten dies völlig ungewiss ist. Zudem liegt ein nicht auf den ersten Blick zu erkennender Unterschied zwischen guten Bekannten in launiger Runde, denen man begegnet, um sich gegenseitig angenehme Stunden zu schenken und zunächst völlig Fremden, denen man begegnet, weil man Hilfe erwartet und denen man programmatisch seine Lebensgeschichte anvertrauen soll. Gute Bekannte interessierte sie vielleicht auch, aber sie könnten einem Schaden, ist es etwa das, was mich zurückhält? „Was sollen die Leute bloß von mir denken“, ist in der Anonymität jedenfalls bedeutungslos. Zudem gibt es echte Freunde, also „Busenfreunde“, ohnehin nur einen oder im Höchstfall zwei und hoffentlich und im Idealfall noch den eigenen Ehepartner.

Meine erste Begegnung mit einem Stuhl in der Cafeteria verlief alles andere als wünschenswert. Ich setzte mich unbedarft darauf und dieser wusste nichts Besseres als direkt unter mir zusammen zu brechen. „Die mehr als 110 kg machen eben besondere statische Gegebenheiten erforderlich“, dachte ich erst. Nicht mal peinlich war es mir. Hatte ich mich schon derart abgefunden mit diesem körperlichen Missstand? Ich betone diesen Missstand nicht, weil auch ich dem Schönheitswahn erlegen bin und den Heidis dieser Welt nacheifere. Es fühlt sich körperlich einfach gar nicht gut an, und es ist problematisch in vielen Lebenssituationen, ich sage nur Fußnagelpflege und Schuhe schnüren. Die nächste planmäßige Begegnung mit dem Oberarzt war erst in 10 Tagen vorgesehen, aber dann wäre mein voraussichtlicher Aufenthalt hier schon zur Hälfte verstrichen. Meinem besonderen Schwerpunkt einer Ernährungsumstellung wurde auch keinerlei Beachtung geschenkt, was sich auch bis zum Ende meines Aufenthaltes nicht änderte, und auch die Möglichkeiten der Jonglage mit den verschiedenen Medikamenten verstrichen wie im Fluge. Ich hatte klare Ziele hier, und diesen wurde meiner Ansicht nach zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Das jedenfalls war die Erkenntnis des ersten Wochenendes, wo tatsächlich nichts stattfand – keine Anwendung und kein Programm.


+ Grenzen zeigen sich zu früh

​Es ging mir in den Therapiesitzungen und bei Vorträgen, die es in der ersten Woche häufiger gibt, nach spätestens 20 Minuten so schlecht, dass ich die Veranstaltungen im Einzelfall verlassen musste. Zu viel Information auf einmal, wenn sich Leute andauernd gegenseitig ins Wort fielen, das störte mich ungemein, oder ich wusste vieles längst und der Referent legte weitschweifig Grundlagen. All das konnte ich kaum ertragen, und ich hätte schreiend weglaufen mögen.

War diese, ich nenne es der Einfachheit halber mal Konzentrationsschwäche, zurückzuführen auf meine Grunderkrankung oder handelte es sich ggf. um eine medikamentös bedingte Neben- oder Wechselwirkung? Genau das unter ständiger Beobachtung herauszufinden, dazu gab es doch hier und jetzt die idealen Gegebenheiten.

Ein nächstes Arztgespräch war erst in zehn Tagen anberaumt, weshalb ich mich um einen kurzfristigeren Termin beim Oberarzt in Gestalt eines freundlichen Psychiaters bemühte, der in mir vielleicht etwas abseits des Klinikalltags jemanden fand, der sich selbst und seine Befindlichkeit besser beschreiben konnte als viele andere. Ich behaupte das von mir, weil mich manches Gespräch neben dem Spielfeldrand erkennen ließ, dass längst nicht alle Mitpatienten auf derart lange Depressions-Karrieren zurückschauen konnten, wie es in meinem Falle war, und vielleicht war es deshalb, dass ich den Eindruck hatte dieser höchst akkurat sprechende und auf gute Manieren wertlegende Arzt sei vielleicht noch etwas bemühter als im Vorgespräch vor wenigen Tagen.

Endlich erweiterte er die Anpassung der Medikation, was mir deutlich vor Augen führte, dass wer nicht aktiv mitarbeitet und klar Ziele formuliert auch hier in der Klinik nur die Hälfte oder weniger erreicht, und ich wollte doch so gerne gesünder werden. Zum Glück hatte ich längst gelernt, auf mich achtzugeben und Störungen frühzeitig anzumelden. Auch sonst schwächelte ich erheblich, mit den für mich seit Wochen typischen Kontrollverlustmomenten, und dem Schwindelgefühl. Solcherlei Vorkommnisse meldete ich brav im sogenannten Schwesternzimmer, das Tag und Nacht besetzt und bei jeder Unregelmäßigkeit aufzusuchen war.

Ich nutzte diese Möglichkeit nicht zuletzt auch deshalb, weil ich auf diese Weise aktenkundig wurde, d.h. sollte sich im Verlaufe meines Aufenthaltes hier herausstellen, dass ich aufgrund meiner alltäglichen Befindlichkeiten künftig nur noch weniger als eine gewisse Anzahl von Stunden arbeitsfähig wäre, würde sich das auf den Anspruch der sog. Erwerbsminderungsrente auswirken. Vorrangige Zielsetzung einer Rehabilitationskur ist naturgemäß die Genesung mindestens die Linderung der Beschwerden, die entweder eine teilweise oder idealerweise eine vollständige Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nach sich ziehen würde. Sollte das nicht gelingen, dann würde hier zum Ende des Aufenthaltes ein psychologisches Gutachten erstellt, welches solcherlei Rentenansprüche hinlänglich untermauert.
​

+ Erstmals gelacht

Nun war schon mehr als die Hälfte meines geplanten Aufenthaltes hier in Bad Meinberg vorbei und ich stellte fest, wie sehr mir die sozialen Kontakte nach Hause und zu Freunden und Bekannten fehlten, als ich entgegen meiner sonstigen Gewohnheit ausnahmsweise in der sogenannten Lounge Platz nahm und sich tatsächlich ein nettes Gespräch zwischen mir und einer ca. 60-jährigen Mitpatientin entwickelte. Inhaltlich kann ich nicht wiedergeben, was wir besprachen - es ging unter anderem um Kindererziehung, sie war Erzieherin, aber es war irgendwie ungezwungen und nett, und einmal konnte ich mit Edeltraut sogar lachen, was mir 14 Tage gar nicht gelungen war.

Es gibt Menschen, die können auf Kommando lachen - manche Schauspieler können das, ich kann das nicht. Ich kann Lächeln, auch wenn mir nicht danach zumute ist, aber herzhaft lachen ohne Herz, das kann ich nicht. Eine Rollenspieltherapeutin Namens Gritt begegnete mir noch am gleichen Tag, die gelernte Schauspielerin und als Gruppentherapeutin engagiert war. Sie tat ihr Bestes, aber auch sie scheiterte an der selbst gestellten Aufgabe zu Lachen ohne echten Anlass. Nicht dass es Teil der Therapie gewesen wäre, das künstliche Lachen zu üben, nein, sie versuchte es anfangs, wohl um die Situation und die Teilnehmer zu entkrampfen. Bei mir erreichte sie damit das Gegenteil, ich empfand es als peinlich.

​Trotzdem machte Gritt aus Sachsen ihre Sache gut, obwohl sie bei dem entzückenden Versuch ihre Herkunft zu verleugnen und hochdeutsch zu sprechen, wiederum scheiterte. Da ich mit Rollenspieltherapien schon Erfahrung hatte wusste ich auch, worauf es dabei ankam. Indem Fall hatet einer der Teilnehmer eine zwischenmenschliche Konfliktsituation, die dann im Zusammenspiel mit den anderen Teilnehmern nachgespielt wird. Spannend ist, dass man bei diesem Prozess verschiedene Szenarien entwerfen kann, um dann spielerisch verschiedene Ergebnisse zu produzieren. Für mich die Königsdisziplin der Gruppentherapien.

Bald darauf wies mein Therapieplan einen Programmpunkt aus, der als Sozialmedizin bezeichnet wurde. Ich recherchierte etwas und verstand, hierbei ging es um meine berufliche Zukunft. Wissend, dass so mancher Patient hier war, um seinem Ziel einer Frühverrentung näher zu kommen, hatte ich mich innerlich noch nicht festgelegt, in welche Richtung es bei mir gehen sollte. Meinen bisherigen Beruf als überbelasteter Taxifahrer konnte und wollte ich in der Form nicht mehr ausüben, aber natürlich mochte es Tätigkeiten geben, denen ich noch gewachsen wäre. Die sozialmedizinische Beurteilung besagte dann, dass ich wohl arbeitsunfähig entlassen werden würde, und auch eine stufenweise Wiedereingliederung ins Berufsleben noch nicht denkbar sei, da aber in meinem Falle noch nicht alle Therapieformen ausprobiert worden seien, stünde dies einer erfolgreichen Beantragung der sogenannten Erwerbsminderungsrente entgegen. Meine Frage, welche Therapien denn noch in Frage kämen, beantwortete der Sozialmediziner damit, dass ja noch der Bereich der Lithiumpräparate ausgespart sei, und da ich ziemlich unbedarft darin bin, alles auszuprobieren, was mir helfen könnte den Leidensdruck zu verringern, bat ich ihn doch Entsprechendes anzuordnen. Seine Entgegnung verblüffte mich derart, dass ich mit jenem Herrn nicht mehr auf Augenhöhe kommunizieren konnte: Er ließ mich wissen, er wolle am Ende nicht schuld sein, wenn sich mein Zustand verschlimmere, weshalb er für eine solche Maßnahme die Verantwortung nicht übernehmen mochte. Nun war mir das Lachen gänzlich vergangen.
​

+ Überforderung

Auch wenn Männer im Allgemeinen ungern zugeben, überfordert zu sein, ich gebe es zu und gehöre damit eben nicht zu den Männern im Allgemeinen, Männerklischees gibt es genug, und manche gehen mir furchtbar gegen den Strich. Aber dieses Stark-sein-wollen um beinahe jeden Preis, wohnt dem sogenannt "starken Geschlecht" wohl doch inne.

Wie anders wir christlichen Männer konditioniert werden, wird klar, wenn man sich das Bibelwort aus 2. Korinther 12:9 auf der Zunge zergehen lässt: „denn [Gottes] Kraft wird in Schwachheit vollkommen gemacht.“ Ich weiß, es wirkt etwas aus dem Zusammenhang gerissen, Schwäche erscheint im Kontext der Aussage des Paulus hier jedenfalls nicht zwangsläufig negativ und so manch anderes christlich-männliche Attribut lässt erkennen, dass vermeintliche männliche Stärken so gar nicht zu christlichen Männern passen wollen. Demut gehört beispielsweise zu den Eigenschaften, die beruflich-geschäftlich in keiner Weise gefragt sind.

Niemand, auch Frauen nicht, würde in seinem Lebenslauf unter „Besondere Eigenschaften“ die Demut hervorheben – das passt einfach nicht in diese Welt. Wir wissen längst, Demut ist Stärke, Grenzen akzeptieren ist Stärke, ja sogar vermeintliche Schwäche kann Stärke sein, wohingegen sogar vermeintliche Stärken zu gewaltigen Schwächen ausufern können.

Viele meiner Mitpatienten beiderlei Geschlechts sind genau über solche Missverständlichkeiten gestolpert. Besonders die persönlichen Belastungsgrenzen werden oft zu spät erkannt, und wenn die Umstände ungünstig sind, kann das irreparable Folgen haben, dergestalt, dass sich die Verletzlichkeitsgrenze verschiebt und damit immer näher rückt.

Ich selbst betrachtete vor vielen Jahren sogar gewisse Symptome meiner psychischen Erkrankung, wie zum Beispiel mit sehr wenig Schlaf ausgekommen zu sein und Tag und Nacht arbeiten zu können, als große Stärken, die ich schamlos ausnutzte. Ich erkannte gar nicht den Zusammenhang zwischen Nicht-schlafen-können oder Nicht-mehr-zur-Ruhe-kommen und einer depressiven Verstimmung, dabei scherzte ich noch und machte mich beinahe etwas lustig über Leute, die das nicht konnten. Die Zeche habe ich teuer bezahlt!

Wie soll es nun weitergehen mit einem defekten Nervenkostüm, das hier und da schon durchgescheuert ist und überall die Kettfäden zeigt? Sicher kann man Löcher versuchen zu stopfen, hier und dort Flicken aufsetzen, aber das Kostüm bleibt zweifellos schadhaft. Gibt es für einen wie mich überhaupt noch einen Arbeitsplatz, dem ich mich gewachsen fühlen könnte?

Der hiesige Sozialmediziner meinte, als Pförtner sei ich doch sicher nicht überfordert, jedenfalls nicht an einer Nebenpforte. Ich wusste bis dato gar nicht, dass es sowas wie Nebenpforten gibt, aber nach längerem Nachdenken verstand ich ihn so, dass bei Großunternehmen eben der meiste Verkehr über die Hauptpforte zu erwarten sei, und eine Nebenpforte eben weniger frequentiert werde. Wie ich diesen Unterschied in einer schriftlichen Bewerbung deutlich machen könnte, ist mir nicht klar geworden.

So einfach ist das also nicht mit der Kenntlichmachung eigener Belastungsgrenzen, es fehlt unserem Arbeitsmarkt also so etwas zwischen Behindertenwerkstatt und Hauptpforte - genau dazwischen wäre wohl mein Arbeitsplatz zu finden. Ob mich diese Aussicht nun zusätzlich deprimiert? Ich denke nicht darüber nach. Eines ist jedenfalls klar: Ich lasse mich von niemandem mehr überfordern, weder von mir selbst noch von einem Vorgesetzten.

Leider trägt neben mir selbst, meine Familie
, meine Frau die Konsequenzen, was mir unendlich leid- und wehtut. Wäre ich leistungsfähiger, brauchte meine Frau nicht zusätzlich zu arbeiten. Über viele Jahre hatte das auch geklappt, sie hatte sich voll auf die Kinder konzentrieren können, so hatte ich es von zu Hause gekannt und wir hatten es so gewollt. Zudem gibt es abgesehen von Haushalt und Kindererziehung jede Menge andere sinnvolle Beschäftigungen, die eine christliche Ehefrau herausfordern könnten, so sehen wir das jedenfalls. Nun ist es anders gekommen, und Sonja erträgt es klaglos. Manchmal ernten andere, was du gesät hast.

​

​

KEINE FORTSETZUNG GEPLANT

​

​

Suchst du das höchste, das Größte?

​

Die Pflanze kann es

dich lehren!

 

Was sie willenlos ist, sei du es wollend

 

      - das ist's!

  Friedrich Schiller  

Jean-Baptiste Kléber

Kleber.jpg

© copyright 2015-2022  by  GEDANKEN splitter 

Inhaltlich Verantwortlicher

gemäß § 18 Abs. 2  MStV

  Gerd H. Kleber

bottom of page