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  PSYCHIATRIE AKUTSTATION 
  ST.-ANSGAR-KLINIK TWISTRINGEN           - 2014

ankunft

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heute an einem gemässigt warmen sommertag hatte ich es endlich wieder geschafft. es war ein echter kampf, mir mal wieder einzugestehen, dass ich stationäre psychiatrische hilfe brauche war ich doch in den letzten wochen immer trübsinniger und trostloser geworden. verdrossenheit und dunkelheit umfängt meine seele immer wieder wie feuchte kälte an ungemütlichen herbsttagen.

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nun befinde ich mich zum dritten mal in meinem leben in diesem geschützten bereich, den man psychiatrie nennt. gar kein so trauriger ort, wie man meinen könnte. ich hatte ja sogar schon mal behauptet, dass es nicht viele mir bekannte orte gibt, an denen mehr gelacht wird als hier. dieser eindruck ist natürlich nicht repräsentativ - es waren meine ureingenen subjektiven eindrücke, die mich damals zu dieser aussage veranlassten. allerdings wird hier mindestens ebenso viel geweint wie gelacht und, was mir noch schlimmer erscheint, von manchen bewohnern nichts, also jedenfalls scheinbar nichts gefühlt - ein auch mir nicht unbekannter zustand der leere, des nichts. 

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mein papa brachte mich her und ich ging mich extra noch schnell im Auto verabschiedend mit meinem rollkoffer und einer reisetasche weinend hinein, in die "Anstalt", wie man solche einrichtungen früher unpassenderweise nannte. ein paar stunden später kam vater nochmals. ich hatte wohl verdrängt, dass man hier handtücher selbst organisieren muss - es ist eben kein hotel. bei der kurzen begegnung viel vater etwas besonderes auf. "die lachen hier so komisch", meinte er, womit er in diesem moment jedenfalls ganz recht hatte. mir viel das nach verschiedenen aufenthalten in der psychiatrie schon gar nicht mehr auf. man gewöhnt sich echt an vieles.

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kurios war an diesem abend nicht nur dieses merkwürdig hysterische gelächter einiger patienten. ich hatte beim abendbrot auf der anrichtefläche in der stationsküche eine gebissprothese gefunden und teilte es etwas verdutzt den anderen patienten im speiseraum mit. daraufhin wurde ich gefragt, ob es eine oberkiefer- oder eine unterkieferprothese sei. nachdem das geklärt war, fand sich seine besitzerin dann recht schnell - die intelligenteste frau der welt, wie sie murmelnd wissen ließ.

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meine unterbringung in einem zweibettzimmer war für mich ok, allerdings hatte ich als erster ankömmling noch die wahl, ob ich das bett links oder rechts belegen wollte. ich entschied mich für das bett mit dem blick zur tür, während ich auf meiner linken seite liegend die rechte hand zum mausklicken oder umblättern frei hätte. ich will ja lesen und auch schreiben, was ich gerade in die tat umsetze. ein 18-jähriger mit zahnspange belegt später das bett neben mir. er stellt sich vor als "max panikattacken", als sei panikattacken sein nachname. 

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ganz neu für mich ist die soeben getroffene entscheidung, beim tippen auf meinem netbook auf die großschreibung ganz zu verzichten. ist im liegen einfach zu anstrengend, aber ich gewöhnte mich nach vierzig jahren des braven ringens um aktive unterscheidung zwischen klein- und großschreibung innerhalb weniger minuten daran. passt ganz gut zu dem zustand, in dem ich mich derzeit befinde - klein. ich fühle mich klein und verloren - ohne hoffnung wie hänsel und gretel bevor sie im wald zufällig das knusperhäuschen finden. diese metapher ist höchst unpassend, da ich in diesem "häuschen", hier in diesem ehemaligen kleinstadtkrankenhaus weder pfefferkuchen noch eine hexe vorzufinden hoffe - pfefferkuchen passt nicht zur jahreszeit und die dienste von hexen werden zum glück nicht von der aok bezahlt.

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was hat mich nur hierher verschlagen? meine eltern haben mich nicht im wald ausgesetzt und hungersnot leide ich auch nicht. oder doch? psychischer hunger, seelischer kohldampf, verlustschmerz und verzweifelung aufgrund unbewältigter vergangenheiten - schicksalsschlägen, großen dummheiten, immer wieder fehlentscheidungen, dunkelstem liebeskummer - der von mir selbst versalzene butterkuchen der menschlichen unvollkommenheit. ist es der dringende wunsch zu sterben? nichtexistenz trifft es eher - einfach nicht mehr da sein - endliche Ruhe finden, das trifft es auf den punkt und das ist krank - niemand, der nach dem tod lechzt kann gesund sein. wer hier herkommt braucht hilfe und wenn schon nicht heilung, dann wenigstens erleichterung. deshalb bin ich hier.

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2. tag

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die nachtruhe war dank schlafmedizin steingleich. ein ziel wird es und muss es sein endlich, nach über einem jahr wieder ohne tabletten einschlafen zu können. allerdings begleitet mich diese abendliche unruhe ja schon mein ganzes leben lang. geweckt wird die ganze station um 7 uhr, jedenfalls alle, die sich so einfach wecken lassen weil sie nicht schon wach sind. ich war schon früher wach.

 

duschen und zähneputzen wäre angebracht, aber nicht einmal dazu kann ich mich regelmäßig aufraffen. das erscheint vielleicht unverständlich, aber beinahe alles was für mich mein leben lang als selbstverständlich und normal galt, ist längst zur qual geworden. jetzt wenigstens haarewaschen und dann frühstück, ein marmeladenbrötchen, ganz ungewöhnlich für mich, da ich morgens immer appetitlos bin - heute mal nicht und dann warten auf die visite. großer kreis, zwei ärzte, eine psychologin, eine schwester, ein sozialarbeiter und ich. erste therapieplanung für die nächsten wochen. schreibwerkstatt bleibt zum glück.

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nur im raucherzimmer ist was los, ansonsten kaum leutchen zu sehen. reden, mit wem? mir ist hier noch kein nichtraucher begegnet, der sich unterhalten wollte, außer einer älteren frau, die ich schon länger von anderen therapien kenne. sie kann allerdings wegen eines unfalls kaum das bett verlassen. außerdem ist sie mir unsympatisch. auf dem langen, ganztags neonbeleuchteten flur sass ebenfalls ganztags eine junge frau, die ständig wie wild in ihrem notizbuch herumkritzelte - es geht ihr wohl besonders schlecht. sie grüßt kaum und lächelt nie. jetzt ist sie weg.

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dann bemerke ich durch ein gekipptes fenster im aufenthaltsraum das geräusch eines lkw. ohne gleich zu schauen weiß ich, das war mal meiner. vor knapp drei jahren hatte ich den selbst gefahren und hier im betriebshof der kleinen klinik die backwaren angeliefert. und tatsächlich, da steht er und macht mich traurig. immer wieder denke ich an diese szene und bin traurig, weil ich das alles nicht mehr kann, habe angst vor neuem und bin sofort überfordert, sogar wenn es um die kleinigkeiten von früher geht, die mir einst noch gut von der hand gingen.

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3. tag

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die nachtruhe ist schon um 3 uhr zu ende trotz schlaftablette, aber es ist nicht schlimm, bin dann ab 5 uhr einfach in den aufenthaltsraum gegangen und habe alkoholfreien ;-) kaffee getrunken. coffein gibt es hier nur auf besonderen wunsch und sogar dann nur manchmal. blutdruck sowieso zu hoch, dann zum EKG. ein junger mitpatient russischer herkunft führt sich merkwürdig laut und aggressiv auf. man sagt, er habe besonders schlimmes zeug genommen. eine echte belastung für alle, auch natürlich für die schwestern, die manchmal auch brüder sind. ich bin unruhig. nur deshalb?

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gleich um 10 uhr habe ich das erste einzelgespräch mit einer psychologin. ich erscheine geduscht und mit geputzten zähnen. wenn ich was muss dann schaffe ich plötzlich was, aber es bleibt schwer. ich verpasse einen überraschungsbesuch von mutti und vati - bin gerade im gespräch mit der psychologin. sie ist sehr jung, versteht aber ihr handwerk. ich bin ganz offen zu ihr, erstaunlich offen, sie hat schnell mein vertrauen gewonnen. es geht um scham und schuldgefühle - ich weine und schnoddere ein taschentuch voll. 45 minuten vergehen wie im flug, danach gebe ich ihr rücksichtsvoll nicht die hand.

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der russische kollege wird immer lauter und agressiver, immer wieder kommen mehrere ärzte und pfleger zu ihm. er wird irgendwann ruhiggestellt, aber nur für kurze zeit. er hat ein einzelzimmer genau neben mir und max panikattacken. einige mitpatienten haben angst, ich aber nicht.

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leider habe ich ständig heißhunger, aber ich trinke lieber viel, muss dauernd aufs klo. die waage schlug morgens auf 93 kilogramm aus. ich bin sehr unglücklich mit meinem spiegelbild.

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Leider bricht mein Bericht mit dem 3. Tag ab. Ich war nicht mehr imstande zu schreiben, bzw. hatte ich später andere Schwerpunkte.

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Suchst du das höchste, das Größte?

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Die Pflanze kann es

dich lehren!

 

Was sie willenlos ist, sei du es wollend

 

      - das ist's!

  Friedrich Schiller  

Jean-Baptiste Kléber

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  Gerd H. Kleber

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